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Migräne: Mythen und Fakten

Migräne betrifft Millionen Menschen in der Schweiz – und ist weit mehr als nur ein Kopfschmerz. Hartnäckige Mythen und Vorurteile erschweren Betroffenen den Alltag, besonders im Berufsleben. Dieser Beitrag räumt mit den häufigsten Irrtümern rund um Migräne auf, erklärt die wahren Ursachen und zeigt, wie ein offener Umgang am Arbeitsplatz zu mehr Verständnis und Lebensqualität führen kann.

Migräne ist weit mehr als nur Kopfschmerzen – sie ist eine neurologische Erkrankung, von der in der Schweiz rund
1,2 Millionen Menschen betroffen sind. Trotz verbesserter Diagnose- und Therapiemöglichkeiten wird Migräne noch immer unterbehandelt und mit zahlreichen Vorurteilen konfrontiert. Besonders am Arbeitsplatz führen diese Missverständnisse zu Stigmatisierung und unnötigen Einschränkungen für Betroffene.

Mythos 1: Migräne sind doch nur Kopfschmerzen

Migräne ist keine blosse Kopfschmerzerkrankung, sondern eine komplexe neurologische Erkrankung, die mit vielfältigen Symptomen einhergeht. Neben den oft einseitigen, pulsierenden Kopfschmerzen leiden Betroffene häufig unter Übelkeit, Erbrechen, extremer Licht- und Lärmempfindlichkeit sowie einem starken Rückzugsbedürfnis. Bei etwa einem Viertel der Migränepatienten treten zudem sogenannte Auren auf – vorübergehende neurologische Symptome wie Sehstörungen, Sprachstörungen oder Taubheitsgefühle. Während einer Migräneattacke, die Stunden bis Tage dauern kann, ist die Fortführung alltäglicher oder beruflicher Aktivitäten in der Regel nicht möglich. Bei Bewegung verschlimmert sich meist der Krankheitszustand.

Mythos 2: Migräne wird durch psychologische Probleme verursacht

Obwohl psychische Faktoren wie Stress Migräneattacken auslösen können, ist die Migräne selbst keine psychosomatische Erkrankung. Sie hat eine biologische Grundlage und ist höchstwahrscheinlich genetisch bedingt. Bei Migräne liegt eine Überempfindlichkeit des Gehirns gegenüber bestimmten Reizen vor, die sich in neurologischen Abläufen und Entzündungsprozessen im Gehirn manifestiert. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass das Gehirn von Menschen mit Migräne anders funktioniert und deutlich mehr äussere Reize wahrnimmt, diese aber nicht so gut filtern kann. Dies kann zu einer Reizüberflutung führen, die eine Migräneattacke begünstigt.

Mythos 3: Jeder Arzt erkennt Migräne und behandelt sie korrekt

Leider wird Migräne noch immer häufig unter- oder fehldiagnostiziert. Obwohl die Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten sich in den letzten Jahren erheblich verbessert haben, befinden sich in der Schweiz mehr als die Hälfte aller Migränebetroffenen trotz erheblicher Beschwerden nicht in ärztlicher Behandlung. Dies liegt teilweise an einer fatalistischen Einstellung («Meiner Mutter konnte auch nicht geholfen werden»), an schlechten Erfahrungen mit älteren Medikamenten oder am fehlenden Einfühlungsvermögen mancher Ärzte. Für eine korrekte Diagnose und individuelle Therapie ist der Besuch bei einem auf Kopfschmerzen spezialisierten Neurologen empfehlenswert.

Mythos 4: Migräniker sind nur faul

Ein besonders hartnäckiges und verletzendes Vorurteil ist die Annahme, Migränebetroffene seien faul oder würden ihre Erkrankung vortäuschen. Das Gegenteil ist der Fall: Wissenschaftliche Studien belegen, dass Menschen mit Migräne in vielen Fällen besonders perfektionistisch, sehr gut strukturiert und zuverlässig sind. Sie arbeiten häufig trotz Schmerzen weiter, was als Präsentismus bezeichnet wird – eine reduzierte Arbeitsleistung bei Anwesenheit, die fast 90% des migränebedingten Produktivitätsverlusts in Unternehmen ausmacht.

Mythos 5: Migräne ist nicht lebensbedrohend, sie ist nur schmerzhaft

Auch wenn Migräne in der Regel nicht unmittelbar lebensbedrohlich ist, sollte die Schwere der Erkrankung keinesfalls unterschätzt werden. Migräne ist die sechsthäufigste der behindernden Krankheiten weltweit und führt zu einer erheblichen Einbusse an Lebensqualität5. Zudem besteht bei Patienten mit Migräne mit Aura ein leicht erhöhtes Risiko für Schlaganfälle und Herzerkrankungen, was eine angemessene medizinische Betreuung umso wichtiger macht.

Mythos 6: Nur Frauen haben Migräne

Zwar sind Frauen tatsächlich häufiger von Migräne betroffen als Männer – in der Schweiz leiden etwa 18% der Frauen und 6% der Männer an Migräne – doch die Erkrankung ist keineswegs auf das weibliche Geschlecht beschränkt. Interessanterweise sind im Kindes- und Jugendalter Jungen und Mädchen noch etwa gleich häufig betroffen. Erst mit der Pubertät und dem Einsetzen hormoneller Veränderungen verschiebt sich das Verhältnis. Auch bei Männern kann Migräne jedoch schwere Auswirkungen haben und sollte ernst genommen werden.

Mythos 7: Migräne – die psychische Reaktion hysterischer Frauen

Dieses besonders diskriminierende Vorurteil entstammt einer Zeit, in der viele Beschwerden von Frauen als «Hysterie» abgetan wurden. Migräne ist keine psychische Reaktion, sondern eine neurologische Erkrankung mit komplexen Mechanismen. Die Häufung bei Frauen ist vor allem auf hormonelle Faktoren zurückzuführen. Etwa 60% der Frauen mit Migräne berichten über einen Zusammenhang mit ihrer Menstruation, was auf die Rolle von Östrogenschwankungen als Auslöser hindeutet.

Mythos 8: Die Migräne-Persönlichkeit

Lange Zeit wurde angenommen, es gäbe eine typische «Migräne-Persönlichkeit»: perfektionistisch, ehrgeizig, kontrollierend und übermässig gewissenhaft. Obwohl manche dieser Eigenschaften bei Migränebetroffenen durchaus häufiger vorkommen können, gibt es keine eindeutige «Migräne-Persönlichkeit». Die Erkrankung betrifft Menschen aller Persönlichkeitstypen und Temperamente. Tatsächlich entwickeln manche Betroffene als Reaktion auf ihre Erkrankung besonders strukturierte Verhaltensweisen, um potenzielle Auslöser zu vermeiden und ihr Leben trotz der unberechenbaren Attacken zu meistern.

Mythos 9: Der Schmerz kommt vom Nacken

Zwar können Verspannungen im Nacken- und Schulterbereich als Auslöser oder Begleitsymptom einer Migräneattacke auftreten, sie sind jedoch nicht die Ursache der Erkrankung. Bei der Migräne handelt es sich um einen komplexen neuronalen Prozess, bei dem das Trigeminovaskuläre System – ein Netzwerk aus Nerven und Blutgefässen im Gehirn – eine zentrale Rolle spielt. Nackenschmerzen können als Teil der sogenannten Prodromalphase auftreten, die einer Migräneattacke vorangeht, oder als Folge der Schonhaltung während der Attacke.

Mythos 10: Migräne ist selbstverschuldet

Migräne ist keine Folge von Fehlverhalten und nicht die Schuld der Betroffenen. Die Veranlagung zur Migräne ist höchstwahrscheinlich genetisch bedingt und kann nicht beeinflusst werden. Bei etwas Nachforschung finden die meisten Betroffenen in ihrem Familienstammbaum eine oder mehrere Personen, die ebenfalls an Migräne leiden. Etwa 90% der Migränepatienten haben eine familiäre Vorgeschichte mit Migräne. Während bestimmte Faktoren Migräneattacken auslösen können, sind diese Auslöser nicht mit der Ursache der Erkrankung zu verwechseln.

Mythos 11: Stress ist die Hauptursache für Migräne

Obwohl Stress bei manchen Betroffenen tatsächlich Migräneattacken auslösen kann, ist er bei weitem nicht der bedeutendste Faktor. Migräneauslöser sind von Person zu Person sehr unterschiedlich. Zu den häufigsten gehören ausgelassene Mahlzeiten, unregelmässiger Schlaf, unregelmässiger Koffeinkonsum, unregelmässige Bewegung, Höhenunterschiede und extreme Temperaturen. Bei Frauen können zudem hormonelle Schwankungen eine wichtige Rolle spielen. Einer der wichtigsten umweltbedingten Faktoren ist das Wetter. Der Zusammenhang zwischen Wetteränderungen und Migräne ist so stark, dass manche Betroffene sich scherzhaft als «menschliches Barometer» bezeichnen.

Mythos 12: Migräne ist nur eine Ausrede

Die Vorstellung, Migräne sei nur ein Vorwand, um unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen, ist nicht nur falsch, sondern auch verletzend für die Betroffenen. Menschen mit Migräne sind oft besonders pflichtbewusst und leistungsorientiert. Sie arbeiten häufig trotz erheblicher Schmerzen und Begleitsymptome weiter, was ihre Beschwerden noch verstärken kann. Migräne ist eine reale und gut dokumentierte neurologische Erkrankung, deren Symptome sich mit objektiven Methoden nachweisen lassen.

Migräne am Arbeitsplatz

Migräne trifft Menschen meist im berufstätigen Alter zwischen 25 und 55 Jahren und hat daher erhebliche Auswirkungen auf das Arbeitsleben. In der Schweiz verursacht die Erkrankung einen volkswirtschaftlichen Schaden von rund 500 Millionen Franken jährlich allein durch Arbeitsausfall. Noch grösser ist jedoch der Produktivitätsverlust durch Präsentismus – wenn Betroffene trotz einer Migräneattacke zur Arbeit erscheinen, aber nur eingeschränkt leistungsfähig sind. Dieser macht fast 90% des migränebedingten wirtschaftlichen Schadens aus.

Viele Betroffene sprechen aus Angst vor Stigmatisierung nicht offen über ihre Erkrankung am Arbeitsplatz. Sie befürchten, als «arbeitsfaul» oder «wenig belastbar» abgestempelt zu werden, was zu Karriereeinbrüchen oder häufigen Stellenwechseln führen kann. Dies ist besonders bedauerlich, da durch einen offenen Umgang mit der Erkrankung, Akzeptanz und gezielte Massnahmen im Arbeitsumfeld eine Entlastung der Betroffenen erreicht werden kann – was auch den Unternehmen zugutekommt.

Gemeinsam für ein besseres Verständnis

Migräne ist eine ernstzunehmende neurologische Erkrankung, die nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigt, sondern auch bedeutende wirtschaftliche Folgen hat. Die zahlreichen Mythen und Vorurteile rund um diese Erkrankung erschweren nicht nur Diagnose und Behandlung, sondern führen auch zu unnötiger Stigmatisierung im beruflichen Umfeld.

Für Betroffene kann es hilfreich sein, offen mit der Erkrankung umzugehen und Arbeitgebende sowie Kollegen zu informieren. Ein Migränetagebuch hilft, individuelle Auslöser zu identifizieren. Aktuelle Behandlungsmöglichkeiten und Beratungsangebote wie das Kopfwehtelefon der Migraine Action bieten wertvolle Unterstützung.

Free the Power of Migraine

Kolleginnen und Kollegen sollten Verständnis zeigen, die Erkrankung ernst nehmen und Betroffene nicht als «Simulanten» abstempeln. Mit gegenseitiger Rücksichtnahme und einem angepassten Arbeitsumfeld muss Migräne kein Karrierehindernis sein. Unter dem Motto «Free the Power of Migraine» können die besonderen Fähigkeiten und Talente von Migränebetroffenen – wie Strukturiertheit, Zuverlässigkeit und Perfektionismus – zum Vorteil aller genutzt werden.

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