


Wenn Migräne das Berufsleben zur Herausforderung macht
Der Wecker klingelt um 7 Uhr morgens, aber schon beim ersten Blinzeln spüren Sie es: Das vertraute Pochen hinter der Stirn kündigt sich an. Wieder einer dieser Tage, an denen das Bürolicht zu grell sein wird, jedes Telefongespräch wie ein Hammerschlag wirkt und Sie sich fragen, wie Sie die nächsten acht Stunden überstehen sollen... Damit sind Sie nicht allein!
Migräne zeigt sich nicht wie ein gebrochenes Bein oder ein Gipsverband – sie bleibt für Aussenstehende unsichtbar. Doch die Auswirkungen auf Ihren Arbeitsalltag sind umso spürbarer. Studien zeigen, dass während einer Migräneattacke die Betroffenen Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren, und unter Wahrnehmungsstörungen leiden können. Als Arbeitnehmende oder Arbeitnehmender kennen Sie diese Momente nur zu gut: Der Bildschirm flimmert vor Ihren Augen, Gespräche erscheinen gedämpft, und selbst einfachste Aufgaben erfordern unermessliche Anstrengung.
Die kognitiven Einschränkungen gehen weit über normale Kopfschmerzen hinaus. Forschende haben festgestellt, dass es während einer Migräneattacke zu Störungen der Aufmerksamkeit und Konzentration, des Kurz- und Langzeitgedächtnisses sowie der Entscheidungsfindung kommen kann. Diese „Gehirnnebel"-Momente machen es nahezu unmöglich, die gewohnte Arbeitsleistung zu erbringen.
Zwischen Präsentismus und Absentismus gefangen
Viele Migräne-Betroffene stehen vor einem schmerzhaften Dilemma: Sollen sie sich krankmelden und riskieren, als unzuverlässig zu gelten, oder sich zur Arbeit schleppen und unter Schmerzen versuchen zu funktionieren? Diese Entscheidung wird besonders schwer, wenn Kolleginnen und Kollegen oder Vorgesetzte die Erkrankung nicht verstehen.
Der sogenannte Präsentismus – das Arbeiten trotz Krankheit – ist bei Migräne-Betroffenen weit verbreitet. Sie kommen ins Büro, obwohl sie nur etwa die Hälfte ihrer normalen Leistung erbringen können. Die Angst vor negativen Konsequenzen, Schuldgefühle oder der Druck, wichtige Projekte nicht zu verpassen, treiben viele dazu, ihre Grenzen zu überschreiten.
Gleichzeitig führen Migräneattacken unvermeidlich zu Fehlzeiten. Diese unvorhersehbaren Ausfälle können Projektpläne durcheinanderbringen und das Team zusätzlich belasten. Die Unsicherheit, wann die nächste Attacke kommt, macht eine langfristige Planung schwierig und verstärkt den Stress – was wiederum neue Migräneattacken auslösen kann.
Die emotionale Doppelbelastung
Neben den physischen Beschwerden leiden Migräne-Betroffene unter einer erheblichen emotionalen Belastung. Die ständige Sorge vor der nächsten Attacke, die Angst vor beruflichen Konsequenzen und das Gefühl, den Erwartungen nicht gerecht zu werden, führen zu chronischem Stress.
Besonders belastend ist die weit verbreitete Stigmatisierung. Viele Betroffene berichten von Kommentaren wie «stell dich nicht so an» oder «nimm doch einfach eine Tablette». Diese mangelnde Akzeptanz führt dazu, dass 43 Prozent der Betroffenen ihre Migräne am Arbeitsplatz verschweigen, was zusätzlichen psychischen Druck erzeugt.
Die Folge ist oft ein Teufelskreis: Stress und emotionale Belastung können neue Migräneattacken auslösen, was wiederum zu mehr Sorgen und Ängsten führt. Studien zeigen, dass Menschen mit Migräne ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Angststörungen haben.
Wenn der Arbeitsplatz selbst zum Auslöser wird
Ironischerweise kann der Arbeitsplatz selbst zu einem Migräne-Auslöser werden. Flackernde Bildschirme, grelles Neonlicht, Lärm im Grossraumbüro, starke Gerüche oder eine schlechte Sitzhaltung – all das kann bei sensitiven Personen Attacken triggern.
Besonders herausfordernd sind Berufe mit unregelmässigen Arbeitszeiten, hohem Kundenkontakt oder starkem Zeitdruck. Schichtarbeit stört den Biorhythmus und kann die Migränehäufigkeit erhöhen, während ständige Unterbrechungen und Multitasking das bereits überreizte Nervensystem zusätzlich belasten.
Das Versteckspiel mit der unsichtbaren Krankheit
Viele Migräne-Betroffene führen ein regelrechtes Doppelleben am Arbeitsplatz. Sie lernen, ihre Schmerzen zu verbergen, entwickeln Strategien, um trotz Attacken zu funktionieren, und erfinden manchmal alternative Erklärungen für ihre Fehlzeiten. Dieses ständige Versteckspiel kostet zusätzliche Energie und verstärkt das Gefühl der Isolation.
Manche Menschen berichten, dass der Versuch, ihre Migräne zu verstecken, paradoxerweise dazu führt, dass sie noch weniger arbeiten können. Die permanente Anspannung und Sorge, entdeckt zu werden, kann die Symptome verschlimmern und neue Attacken auslösen.
Zwischen Karriereträumen und gesundheitlichen Grenzen
Für viele Betroffene bedeutet Migräne, schwierige Entscheidungen über ihre berufliche Laufbahn treffen zu müssen. Manche verzichten auf Beförderungen aus Angst, den zusätzlichen Stress nicht bewältigen zu können. Andere wechseln in weniger anspruchsvolle Positionen oder reduzieren ihre Arbeitszeit. Besonders frustrierend ist, dass solche Entscheidungen oft nicht aus mangelnder Kompetenz oder Motivation getroffen werden, sondern aus Angst vor der unvorhersehbaren Natur der Migräne.
Die Kraft der Anpassungsfähigkeit
Trotz aller Herausforderungen entwickeln viele Migräne-Betroffene bemerkenswerte Fähigkeiten, die zu herausragenden beruflichen Stärken werden können. Geprägt von der täglichen Bewältigung unvorhersehbarer Attacken, lernen sie extrem effizient zu arbeiten, wenn sie symptomfrei sind. Die ständige Notwendigkeit, mit begrenzter Zeit zu haushalten, führt zu ausgezeichneten Planungskompetenzen und einer hohen Disziplin im Umgang mit der Zeit.
Diese Menschen entwickeln eine besondere Fähigkeit, Prioritäten zu setzen, effektiv zu kommunizieren und kreative Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Sie sind regelrecht trainiert darin, Hindernisse zu überwinden – eine Kompetenz, die durch jahrelange Erfahrung mit einer unberechenbar verlaufenden Erkrankung geschärft wurde.
Aus der Notwendigkeit heraus, das Beste aus guten Tagen zu machen, entsteht eine Wertschätzung für gesunde Phasen, die andere oft als selbstverständlich betrachten. Diese Resilienz und Anpassungsfähigkeit sind Qualitäten von unschätzbarem Wert im Berufsleben – auch wenn sie oft unerkannt bleiben, da sie aus der unsichtbaren Bewältigung einer ebenso unsichtbaren Erkrankung entstehen.
Ein Weg in die Zukunft: Aufklärung und Unterstützung
«Migräne am Arbeitplatz» bedeutet ein komplexes Zusammenspiel aus körperlichen Symptomen, emotionalen Belastungen, sozialen Herausforderungen und beruflichen Sorgen. Wenn Sie als Betroffene oder Betroffener den Mut fassen, über Ihre Situation zu sprechen und mögliche Trigger zu besprechen, und wenn Arbeitgebende bereit sind, Verständnis zu zeigen und gemeinsam praktische Lösungen zu entwickeln, können Sie trotz Migräne eine erfolgreiche und erfüllende Karriere führen.
